Active Drive Assist, serien­mäßige Mirror-Cam, verbesserter Abbiege-Assistent oder innovatives Radar- und Kamerasystem: Der New Actros steckt voller technischer Neuheiten und nützlicher Assistenz-Systeme. Anfang Mai – nur wenige Wochen vor Auslieferungsbeginn – waren wir mit dem neuen Daimler-Flaggschiff in Spanien unterwegs.

Im Vorfeld wurde reichlich über ihn geredet. Auf zahlreichen Präsentationen, Pressekonferenzen und in diversen Fachmagazinen entbrannten heiße Diskussionen darüber, was er kann. Oder besser gesagt: ob er das halten kann, was die Daimler-Leute seit Monaten immer wieder ankündigen. Die Rede ist von der neuen Generation des Daimler-Fernverkehrsflaggschiff – dem New Actros.

Von Anfang an – von der ersten Präsentation des Trucks im September 2018 in Berlin bis kurz vor Auslieferungsbeginn im Frühsommer 2019 – war es das erklärte Ziel des Stuttgarter LKW-Herstellers, mit den technischen Neuheiten Fahrer, Kunden und die Gesellschaft spürbar voranzubringen und zu entlasten.
So soll der schwere Fernverkehrs-LKW mit Entwicklungen wie dem Multimedia-Cockpit, der Mirror-Cam, verbesserten Sicherheitssystemen oder teilautomatisiertem Fahren passende Antworten auf Themen wie Verkehrssicherheit, Kraftstoffeffizienz und Verfügbarkeit geben.

Große Pläne der Schwaben. Ob Daimler das alles im harten Praxiseinsatz auf Europas Fernverkehrswegen aber auch tatsächlich halten kann? Der Frage wollten wir nachgehen und nutzten die Mercedes-Einladung Anfang Mai nach Barcelona, um dem brandneuen Actros selber einmal genauer auf den Zahn zu fühlen. Gelegenheit dazu bot eine 114 km lange Fahrt durch Spaniens Nordosten.

Teilautomatisiertes Fahren
Als eines der absoluten Highlights der neuen Fahrzeuggeneration wurde im Vorfeld immer wieder der Active Drive Assist angekündigt. Das System orientiert sich mithilfe einer Kamera an den Markierungen auf beiden Straßenseiten und übernimmt die Längs- und Querführung des LKW.
Zudem kann es das Fahrzeug selbstständig bremsen, beschleunigen und durch Lenkbewegungen in der Spur halten.

Wird der Active Drive Assist deaktiviert, bleibt die aktive Spurführung weiterhin erhalten. Droht das Fahrzeug die Spur unabsichtlich zu verlassen, greift die aktive Spurführung trotzdem ein und lenkt selbständig zurück in die Spur.
Dabei nutzt der Fahrassistent die neue elektrisch unterstützte Lenkung. Sie erhöht bei Bedarf – etwa beim Rangieren – das Lenkmoment und verbessert somit das Handling.

Arbeitet das System, wird dem Fahrer dies im Zentraldisplay des Multimedia-Cockpits durch ein blaues Lenkradsymbol und blau eingefärbte Spurmarkierungen dargestellt. Kommt der neue Actros dabei einem vorausfahrenden Fahrzeug zu nahe, wird dies ebenfalls hier dargestellt, und der Active Drive Assist bremst den LKW selbständig ab.

Stefan Buchner, Leiter Mercedes-Benz LKW:
„Bei der Entwicklung des neuen Actros stand für uns eines an erster Stelle: zuhören. Uns war es wichtig, zuerst zu verstehen, welche Anforderungen unsere Kunden, die Fahrer und auch die Gesellschaft an einen modernen LKW haben. Damit sind wir an die Arbeit gegangen und haben Lösungen entwickelt mit dem klaren Ziel, den neuen Actros zum sichersten, effizientesten und vernetztesten LKW der Welt zu machen.“

Wenn dann wieder genügend Abstand zum vorausfahrenden Fahrzeug vorhanden ist, beschleunigt das System den Actros erneut bis zur festgesetzten Geschwindigkeit. Der gewünschte Abstand zum Vordermann ist dabei in mehreren Stufen einstellbar.
Außerdem unterstützt der Active Drive Assist den Fahrer im Stau, denn der elektronische Helfer baut auf dem bewährten Abstandshalte-Assistenten mit Stop-and-go-Funktion auf.

Allerdings bleibt ADA weiterhin ein Assistenzsystem, das den Fahrer lediglich unterstützt, es entlässt ihn jedoch nicht aus seiner Verantwortung für das Verkehrsgeschehen.
Das haben wir im Test auch prompt zu spüren bekommen: Werden die Hände länger als wenige Sekunden vom Lenkrad genommen, warnt das System den Fahrer sowohl über ein akustisches Signal als auch mit einer optischen Warnmeldung auf dem Display. Reagiert der Fahrer nicht auf diese Warnung, wird der Active Drive Assist deaktiviert, und der Pilot muss die Steuerung wieder selber übernehmen.

Zudem ist die Funktion nur für Autobahnfahrten konzipiert. Auf Landstraßen und im urbanen Bereich übernimmt der Fahrer weiterhin die dauerhafte Fahrzeugsteuerung.
Unser Fazit: Während der gesamten Testfahrt auf dem rund 100 km langen Autobahnabschnitt arbeitete das ADA-System fehler- und störungsfrei. Selbst bei kurzen Unterbrechnungen der Fahrbahnmarkierungen konnte es die fehlende Linienführung überbrücken und den LKW sicher in der Spur halten.

Alles im Blick
Hauptspiegel und Weitwinkelspiegel werden beim neuen Actros durch die serienmäßige Mirror-Cam ersetzt. Für Sicherheit, Fahrzeughandling und Aerodynamik bedeutet das eine deutliche Verbesserung – wovon sich die Test-Redaktion in Barcelona selbst überzeugen konnte.

Das System besteht aus zwei nach hinten gerichteten Kameras, deren Bilder auf zwei Displays im Fahrerhaus angezeigt werden. Diese sind an den A-Säulen befestigt und unterstützen den Fahrer zum Beispiel durch spezielle Distanzlinien zur besseren Einschätzung des rückwärtigen Verkehrs oder beim Rangieren, Abbiegen oder beim Spurwechsel.

Ein weiterer großer Vorteil: Durch den Wegfall der herkömmlichen Spiegel verbessert sich die Rundumsicht erheblich.

Bei Sattelzug­maschinen schwenkt während der Kurvenfahrt das Bild des kurveninneren Displays mit und liefert so eine optimale Sicht auf den gesamten Trailer. Distanzlinien tragen zu einer besseren Einschätzung des rückwärtigen Verkehrs bei. Außerdem kann eine zusätzliche Linie, die sich individuell einstellen lässt, beispielsweise das Trailerende anzeigen. So wird das zentimetergenaue Rangieren noch einfacher.

Zudem verfügt die Mirror-Cam über eine spezielle Rangieransicht beim Rückwärtsfahren: Im oberen Bereich des Displays wird dabei der fahrzeugnahe und im unteren – mit einer gewissen Überschneidung – der fahrzeugferne Bereich angezeigt.

Bei beginnender Dunkelheit wechselt das System in eine Art Nachtsicht-Modus, um den Fahrer nicht zu blenden und die Strahleneffekte der Scheinwerfer anderer Verkehrsteilnehmer zu reduzieren. Das System verhindert aber auch tagsüber bei direkter Sonneneinstrahlung, dass der Fahrer von hinten geblendet wird.
Und wenn der Fahrer Pause macht, kann er durch einen Schalter am Bett das System für jeweils zwei Minuten aktivieren. Das ermöglicht ihm, auch bei geschlossenen Vorhängen über die Displays das Fahrzeugumfeld zu kontrollieren.
Das Mirror-Cam-System ist zertifiziert nach der geltenden UN-Regelung R46 für Rückspiegel.

Sicher unterwegs
Ebenfalls im neuen Actros zu finden: der Abbiege-Assistent, der bereits seit 2016 erhältlich und derzeit das einzige voll in die Fahrzeugarchitektur integrierte System seiner Art ist. Der Abbiege-Assistent kann die Wahrscheinlichkeit gefährlicher Unfälle auf der Beifahrerseite beim Abbiegen beziehungsweise Spurwechsel nach rechts minimieren.

Nun wurde das Warnsystem noch einmal verbessert: Mirror-Cam und Abbiege-Assistent arbeiten im neuen Actros Hand in Hand – alle relevanten Hinweise sind an einem Ort auf den Displays der Mirror-Cam gebündelt.
Das wichtige Feature arbeitet mit einem mehrstufigen Warnprozess: Befindet sich ein bewegliches oder stehendes Objekt in der seitlich auf der Beifahrerseite liegenden Überwachungszone, wird der Fahrer zunächst optisch informiert.

Im Display der Mirror-Cam auf der Beifahrerseite leuchtet zu diesem Zweck ein dreieckiges Warnsymbol gelb auf. Bei Kollisionsgefahr erfolgt eine zusätzliche optische und akustische Warnung: Die Anzeige blinkt dann mehrfach rot, nach zwei Sekunden permanent rot. Überdies ertönt zeitgleich ein Warnton von der Beifahrerseite.

Der Abbiege-Assistent greift nicht aktiv in das Bremssystem ein. Es liegt in der Verantwortung des Fahrers, mit Unterstützung der Warnungen des Systems das Fahrzeug rechtzeitig abzubremsen.

Ein weiteres wichtiges Sicherheitsfeature ist der Active Brake Assist 5. Das weiterentwickelte System kann nun dank der Kombination von Radar- und Kamerasystem noch besser auf Personen reagieren. Die bewährten Fähigkeiten des Vorgängers bleiben: Ganz gleich ob stehendes oder vorausfahrendes Fahrzeug oder Mensch – der Active Brake Assist 5 unterstützt den Fahrer, wenn ein Auffahrunfall droht. Im Bedarfsfall auch mit einer automatisierten Vollbremsung.

Neben Active Drive Assist, Mirror-Cam, Abbiege-Assistent und Active Brake Assist 5 erhöhen weitere innovative Systeme wie der Stabilitätsregel-Assistent für Auflieger und Anhänger die Sicherheit des neuen Actros. Neu ist auch die elektronische Feststellbremse mit Hold-Funktion. Sie vereint einfaches Handling und höhere Sicherheit. Die Aktivierung erfolgt automatisch beim Ausschalten des Motors.

Die integrierte Hold-Funktion wird im Stillstand durch gezielte Betätigung des Bremspedals aktiviert. Sie löst sich, sobald das Fahrpedal erneut betätigt wird. Beim Anfahren am Berg leistet das System durch die integrierte Anfahrhilfe Hill-Holder wertvolle Dienste.
Der Verkehrszeichen-Assistent kann Geschwindigkeitsbegrenzungen, Anfang und Ende von Überholverboten sowie Warnschilder erkennen und zeigt diese im Display an. Bei Geschwindigkeitsverstößen erfolgt zu den erkannten Schildern eine optische Warnung.

Sparmeister
Was beim New Actros auf den ersten Blick auffällt, sind die nur geringen optischen Veränderungen am Exterieur im Vergleich zur Vergängergeneration. Außer der markanten Mirror-Cam und dem damit verbundenen Wegfall der klassischen Seitenspiegel, wurden auch kleinere Veränderungen an der Aerodynamik der seitlichen Endkantenklappen vorgenommen. Auch die geschwungene Lichtsignatur am oberen Scheinwerferrand und das LED-Tagfahrlicht sind neu. Ansonsten bleibt das äußere Antlitz eher unverändert. Die großen Veränderungen lassen sich überwiegend bei den inneren Werten finden.

Neben den vielen neuen Assistenzsystemen betrifft das vor allem die „Trinkgewohnheiten“ des LKW. So wurde der Kraftstoffverbrauch des neuen Actros im Vergleich zum Vorgänger abermals deutlich gesenkt. Maßgeblichen Anteil daran hat die erweiterte Tempomat- und Getriebesteuerung Predictive Powertrain Control (PPC). Neu ist unter anderem, dass PPC jetzt auch im Überlandverkehr einsetzbar ist.

Beim Spritsparen helfen außerdem, neben den aerodynamischen Vorzügen der Mirror-Cam und der seitlichen Endkantenklappen, neue kraftstoffsparende Hinterachsübersetzungen, die bei einigen Modellen zum Einsatz kommen.

Torsten Reinholz, Berufskraftfahrer bei der Böpple Automotive GmbH:
„An die neue Mirror-Cam habe ich mich im Fahreralltag schnell gewöhnt. Schon nach wenigen Tagen wollte ich sie nicht mehr missen. Da sind zum Beispiel die Distanz­linien zum nachfolgenden Verkehr: Beim Überholen auf der Autobahn bin ich jetzt nicht mehr darauf angewiesen, dass der Kollege nett ist und aufblinkt, wenn ich vorbei bin. Das System zeigt mir auf dem Display in der Kabine einfach an, wenn ich wieder auf die rechte Spur ziehen kann. Auch bei Kurvenfahrten ist die Mirror-Cam eine echte Unterstützung: Das Kamerabild schwenkt mit, sodass ich immer die Achsen und das Ende meines Sattelaufliegers im Auge behalte.
Praktisch ist auch, dass sich die Helligkeit der Displays manuell regeln lässt. Außerdem sind die Kameras mittels Tastendruck beheizbar. Gut gefällt mir, dass ich beim Rasten und Schlafen durch Schalter in der Tür und am Bett jederzeit das Fahrzeugumfeld kontrollieren kann. Das gibt einem ein sicheres Gefühl während der Pause.“

Intuitiv und vernetzt
Im Test überzeugte auch das neue Multimedia-Cockpit, das dem Fahrer ganz neue Bedienmöglichkeiten und gesteigerten Bedienkomfort bringt. Dazu zählen unter anderem die gelungene Integration von Apple-Car-Play und Android-Auto in das Fahrzeug-System.
Zum Multimedia-Cockpit gehören zwei große Displays. Das Primärdisplay ersetzt das herkömmliche Kombiinstrument. Hier werden beispielsweise sämtliche Assistenz­systeme und die neue Verkehrszeichenerkennung angezeigt. Ein zweiter Touchscreen in der Brüstung dient der Bedienung von ausgewählten Apps des Mercedes-Benz-Truck-App-Portals, virtuellen Schaltern sowie zur Darstellung des neuen Navigationssystems.

Für den Unternehmer wertvoll: die Echtzeitkontrolle des LKW über Fleetboard und Mercedes-Benz-Uptime dank Truck-Data-Center.
Es empfängt Daten von den Sensoren und Kameras im Actros und wertet diese für unterschiedliche Anwendungen aus. Gleichzeitig ist es die Schnittstelle für sämtliche Vernetzungsdienste und damit zuständig für die Außenkommunikation des Trucks.

Dieses Verbindungsmodul ist die Basis für Mercedes-Benz-Uptime und alle Fleetboard-Dienste. Damit ist der Truck permanent mit der Cloud verbunden und wird Teil des „Internet of things“.

Philipp Bönders